Was kann über Erfolg oder Misserfolg eines IT- oder Technologieunternehmens entscheiden? Kurz gesagt: Vielfalt, wie Eilín Geraghty und Lars Steffen vom eco Verband darlegen. Forschungsergebnisse verdeutlichen seit Jahrzehnten, dass heterogene Teams und eine auf Vielfalt ausgelegte Unternehmenskultur zu weitaus besseren Lösungen, Produkten und Innovationen führen – angesichts der heutigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen werden diese Vorteile noch stärker.
Fest steht: Damit Vielfalt entsteht, muss die Gleichstellung der Geschlechter in der Unternehmenskultur und auf der Agenda des Top-Managements verankert sein. Von einer paritätischen Besetzung im Aspekt Gender ist die Tech-Wirtschaft jedoch weit entfernt. Frauen sind in der IT- und Tech-Branche deutlich unterrepräsentiert. In den USA beispielsweise ist nur etwas mehr als jeder vierte (26,2 Prozent) Beschäftigte in der Tech-Branche weiblich. In Europa liegt der Frauenanteil laut einer Erhebung von Eurostat bei 19,1 Prozent.
Mit Blick auf die Zukunft scheinen die Aussichten nicht viel rosiger zu sein. In 39 der OECD-Mitgliedsstaaten sind nur 20 Prozent der Informatik-Absolventen weiblich, während in vielen europäischen Ländern – wie z. B. Frankreich, den Niederlanden oder dem Vereinigten Königreich – der Anteil der Absolventinnen im Studiengang Informatik sogar unter 15 Prozent liegt. Entscheidend ist, dass diesem Ungleichgewicht bereits früh entgegengewirkt wird und Mädchen ermutigt werden, sich mit Technik und IT zu beschäftigen. Denn – so verdeutlichen Studien – das Selbstvertrauen von Mädchen beginnt im Alter von sechs Jahren zu sinken. Laut OECD-Bericht interessieren sich im Alter von 15 Jahren zehnmal mehr Jungen als Mädchen für einen technischen Beruf.
Dieses Ungleichgewicht hat zahlreiche Auswirkungen – nicht nur für Mädchen und Frauen, sondern für die gesamte IT- und Tech-Branche. Wie Oliver Süme, Vorstandsvorsitzender beim eco Verband, verdeutlicht: „Die hochinnovative und robuste IT- und Tech-Branche erlebt schon jetzt einen eklatanten Fachkräftemangel mit gravierenden Auswirkungen. Dieser Mangel an Mitarbeitern mit fortgeschrittenen digitalen Fähigkeiten ist ein wesentlicher Faktor, der zur Verlangsamung der digitalen Transformation in den EU-Mitgliedstaaten beiträgt.“
55 % der Unternehmen in der EU geben an, dass sie Schwierigkeiten haben, IKT-Fachkräfte zu rekrutieren.
Im Digital Economy and Society Index (DESI) 2021 geben 55 Prozent der Unternehmen in der EU an, Schwierigkeiten zu haben, IKT-Fachkräfte zu rekrutieren. Der Ruf nach mehr Frauen in der Technologiebranche wird daher immer lauter.
Um dem tiefsitzenden Ungleichgewicht entgegenzuwirken, hat der eco Verband in diesem Jahr ein Whitepaper mit dem Titel „Girls in Tech: A Call to Action“ veröffentlicht. Das Whitepaper 2022 stützt sich nicht nur auf wissenschaftliche Forschungsergebnisse, sondern auch auf empirische Erfahrungen von fünfzehn weiblichen Role Models aus IT- und Tech-Unternehmen und -Verbänden in Europa, den USA und Afrika. Als zentrale Akteure der Weltwirtschaft und der Gesellschaft wissen diese Unternehmen, wie wichtig es ist, Erkenntnisse über das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern in der Tech-Welt zu gewinnen und entsprechende Gegenimpulse zu setzen.
Ein Teufelskreis, den es zu durchbrechen gilt
Geschlechtsspezifische Unterschiede sind nicht auf angeborene Unterschiede in der Begabung zurückzuführen, sondern vielmehr auf die Einstellung der Schülerinnen sowie ihr mangelndes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten.
Die Neurowissenschaftlerin Gina Rippon zum Beispiel räumt in ihrem 2019 veröffentlichten Buch „The Gendered Brain“ mit uralten Mythen auf und bestätigt, dass es in den genetischen und biologischen Veranlagungen von Mädchen und Jungen keinerlei Faktoren gibt, die das anhaltende Geschlechtergefälle rechtfertigen. Ebenso bestätigt ein früherer Bericht der OECD, ABC of Gender Equality in Education (2015), dass Leistungsunterschiede in wissenschaftlichen und IKT-bezogenen Bereichen nicht auf angeborene Unterschiede in der Begabung zurückzuführen sind.
Eine zentrale Frage in diesem Zusammenhang lautet daher: Warum werden so viele Mädchen und Frauen von den lukrativen Karrierechancen in der Tech-Branche abgehalten? Letztlich ist die Ursachen in einem Kreislauf miteinander verbundener Faktoren zu suchen, der von Stereotypen (wie z. B. falschen Glaubenssätzen wie Mädchen und Frauen können kein Mathe) über fehlende weibliche Vorbilder, die „Bro-Kultur“ der Branche bis hin zur Darstellung von Stereotypen in Medien- und Marketingkultur reicht. Patricia Hillebrand, International Channel Manager von RNT Rausch bekräftigt: „Leider gibt es auch im Jahr 2022 noch ein Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern und die alten Boys‘ Clubs. Es hat sich nur wenig geändert.“
Wie die IT- und Tech-Branche handeln kann
Was können Tech-Unternehmen tun, um den Kreislauf zu durchbrechen und mehr Frauen für eine Karriere in Tech zu inspirieren? Dazu liefert das Whitepaper „Girls in Tech. A Call to Action“ eine ganze Reihe an IT- und Tech-Unternehmen mit Vorbildfunktion, die als Blaupause für eigene Maßnahmen für mehr Vielfalt im Aspekt Gender dienen. So gibt Jutta Horstmann, Chief Operating Officer bei eyeo, wertvolle Tipps. Auf ihrer Checkliste für mehr Vielfalt im Aspekt Gender stehen unter anderem die Schulung von Personalverantwortlichen und Führungskräften in Hinblick auf unvoreingenommene Einstellungs- und Leistungsbeurteilungen, die Sicherstellung ausgewogener Rekrutierungspipelines, die Untersuchung und Beseitigung des geschlechtsspezifischen Lohngefälles sowie Investitionen in familienfreundliche Arbeitsbedingungen. „Wir sind stolz darauf, dass wir in den letzten zehn Jahren die Frauenquote von rund 20 Prozent auf jetzt über 44 Prozent verdoppelt haben“, so Horstmann. Sabine Schaar von Equinix gibt fundierte Einblicke in den Wert von Networking und Mentoring. „Vor zehn Jahren hat unser Unternehmen das Equinix Women‘s Leadership Network ins Leben gerufen – eine Plattform für Frauen, um Erfahrungen auszutauschen, Führungsqualitäten aufzubauen und neue Techniken im Umgang mit Vorurteilen anzuwenden.“
Alle Mitwirkenden des Whitepapers des eco Verbands „Girls in Tech: A Call to Action“ sind der Meinung, dass die Sichtbarkeit von weiblichen Vorbildern ein absolutes Muss ist. Lucia Falkenberg, Chief People Officer, DE-CIX und eco Verband, betont: „Unsere Women in Tech stehen auf Bühnen, sie sind Sprecherinnen auf Konferenzen und in Webinaren, damit die ganze Welt da draußen diese lebendige Vielfalt sieht, die wir so sehr schätzen.“
Leitlinien für politische Entscheidungsträger, Lehrkräfte und Pädagogen
Unternehmen spielen zwar eine zentrale Rolle bei der Förderung von Mädchen in der Technologiebranche, jedoch braucht es auch seitens Politik, Bildungseinrichtungen und Zivilgesellschaft entsprechende Maßnahmen und Rahmenbedingungen. Der Teufelskreis, der die Gesellschaft als Ganzes betrifft, muss so früh wie möglich durchbrochen werden, damit zukünftig mehr Mädchen und Frauen aufgrund ihrer Erziehung und ihrer digitalen Bildung im Technologie-Bereich einsteigen. Damit dies gelingt, gibt das das Whitepaper sechs klare Leitlinien für politische Entscheidungsträger und Pädagogen.
Es ist zwingend erforderlich, dass Informatik als Pflichtfach Eingang in die Curricula der Schulen findet sowohl in der Grundschule wie in den weiterführenden Schulen. Genauso wichtig und entscheidend ist es, dass Technologie in eine Reihe weiterer Fachdisziplinen integriert wird. In diesem Zusammenhang bemerkt Esther Kioni von der Internet Society: „Wenn es um Bildung geht, beseitigt die Möglichkeit, Technologie in Biologie, Mathematik, Chemie oder Geschichte einzubinden, jedes Element der Einschüchterung. Ein Mädchen, das Geschichte oder Hauswirtschaft mag, vergisst, dass es eigentlich mit Technik zu tun hat – und kann schließlich beides beherrschen.“ Wie Kioni betont, spielt die Bildung eine entscheidende Rolle beim Abbau von Stereotypen. „Nach meiner Erfahrung – vor allem bei den Mädchen, die bereits mit Stereotypen konfrontiert wurden und denen gesagt wurde, dass Technik etwas für Jungen und Männer ist – können diese Ängste und Stereotypen verschwinden, wenn die Technik in Fächer integriert wird, die sie mögen.“
Kompetenz ist keine Frage des Geschlechts, sondern eine Frage des Glaubens, der Leidenschaft und der Anstrengung. Vom Kindergarten an müssen Mädchen konkrete Möglichkeiten erhalten, ihre natürliche Begeisterung für Technik zu entdecken. Angesichts der heutigen Erkenntnisse, wie wichtig es ist, dass mehr Frauen in der Technologiebranche tätig sind, ist es nun an der Zeit, dass politische Entscheidungsträger, Pädagogen und die Branche handeln.
Laut OECD-Bericht interessieren sich im Alter von 15 Jahren zehnmal mehr Jungen als Mädchen für einen technischen Beruf.
Geschlechtsspezifische Unterschiede sind nicht auf angeborene Unterschiede in der Begabung zurückzuführen, sondern vielmehr auf die Einstellung der Schülerinnen sowie ihr mangelndes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten.
Unternehmen spielen zwar eine zentrale Rolle bei der Förderung von Mädchen in der Technologiebranche, jedoch braucht es auch seitens Politik, Bildungseinrichtungen und Zivilgesellschaft entsprechende Maßnahmen und Rahmenbedingungen.
Kompetenz ist keine Frage des Geschlechts, sondern eine Frage des Glaubens, der Leidenschaft und der Anstrengung. Vom Kindergarten an müssen Mädchen konkrete Möglichkeiten erhalten, ihre natürliche Begeisterung für Technik zu entdecken.
Das vollständige Whitepaper steht zum kostenlosen Download bereit.
Der Artikel ist im Oktober auf Englisch im dotmagazine erschienen.
Eilín Geraghty ist seit 2017 Projektmanagerin im eco International Team beim eco – Verband der Internetwirtschaft und Autorin der eco Studie „Women in Tech Across the Globe: A Good Practice Guide for Companies“ und des Whitepapers „Girls in Tech: A Call to Action“. Geraghty bringt über 20 Jahre Berufserfahrung als Managerin, Beraterin und Dozentin mit – allesamt mit starkem Fokus auf Inklusion und Gleichberechtigung.
Lars Steffen ist Director International bei eco – Verband der Internetwirtschaft (international.eco.de), dem größten Verband der Internetwirtschaft in Europa. Bei eco koordiniert er alle internationalen Aktivitäten des Verbandes und kümmert sich um die Mitglieder aus der Domain-Branche.