INTERVIEW

Im Gespräch mit Margit Stumpp, MdB, Sprecherin für Medien- und Bildungspolitik, Bündnis 90/ Die Grünen

Warum sind Ihnen die Themen „Frauen in Tech“ und „Frauen in Leadership“ persönlich wichtig?

Margit Stumpp (MdB): Frauen haben eine andere Perspektive, sowohl in Bezug auf Entwicklung als auch auf Anwendung. Das hat Auswirkungen: Ein simples Beispiel sind mechanische Komponenten, deren Abmessungen für Frauen manchmal schlicht zu groß sind oder Nutzeroberflächen, deren usability vom Alltag sehr weit entfernt sind. Hier sind noch viele Möglichkeiten ungenutzt, die Algorithmen für Individualisierung bieten, beispielsweise in der Medizin oder beim Marketing.

In Bezug auf Führung wissen wir inzwischen aus zahlreichen Studien, dass gemischte Teams erfolgreicher arbeiten und auch führen. Leider schließen Strukturen immer noch viel zu häufig Frauen und Minderheiten aus. Das konterkariert das Leistungsprinzip. Mich bewegen diese beiden Themen auch auf Grund meiner eigenen Biografie. In meinem Ingenieursstudium war ich eine Exotin und musste mir mehr als einen unqualifizierten Spruch anhören – weniger von Kommilitonen, mehr von Professoren. Das war befremdlich, zum Glück wusste ich mich zu wehren.

Das half mit allerdings in meiner beruflichen Karriere herzlich wenig. „Ich habe nichts gegen kompetente und selbstbewusste Frauen.“ Bei solchen Aussagen ist Alarmstufe „Rot“ angesagt. Heißt: Sie können was, aber sind mir zu kritisch/unbequem etc., Kollegen mit denselben Eigenschaften sind kreativ bzw. zielstrebig. Die weibliche Kompetenz nutzt man(n) gerne, aber befördert wird der Kollege.

Die Präsenz von Frauen in den MINT-Studiengängen oder in den dualen Ausbildungen und den Betrieben gibt mir nicht unbedingt das Gefühl, im Jahr 2021 zu leben. Da hat sich in den letzten 30 Jahren leider wenig verändert. Es ist allerhöchste Zeit, endlich überkommene Rollenmuster aufzubrechen und jungen Menschen die ganze Vielfalt zu ermöglichen – vom Erzieher bis zur Physikerin, vom Hausmann bis zur Vorstandsvorsitzenden. Männer und Frauen – und damit unsere ganze Gesellschaft – gewinnen, wenn die privaten und beruflichen Möglichkeiten für niemanden eingeschränkt werden.

Welchen Karriere-Tipp möchten Sie anderen Frauen mit auf den Weg geben?

Stumpp (MdB): Nicht abschrecken lassen! Vielleicht hatte ich das Glück, auf dem Hof meiner Eltern als älteste von vier Töchtern selbstverständlich bei allen Tätigkeiten mit herangezogen zu werden. So habe ich erst relativ spät vermeintliche Mädchen- und Jungen-Kategorien kennengelernt, die für mich dann auch nie zur Orientierung wurden.

Wir sollten alle jungen Menschen darin bestärken, die unterschiedlichsten Lebensbereiche kennenzulernen, oft mangelt es ja schon daran, und ihren Interessen und Fähigkeiten unvoreingenommen nachzugehen. Dafür müssen wir politisch Verantwortlichen dann auch die entsprechenden Rahmenbedingungen schaffen, etwa was Bezahlung, Wertschätzung oder Vereinbarkeit angeht.

Wir sollten alle jungen Menschen darin bestärken, die unterschiedlichsten Lebensbereiche kennenzulernen.

Laut einer Umfrage von eco in Kooperation mit dem Meinungsforschungsinstituts Civey sind über 70 Prozent der Befragten unzufrieden mit den aktuellen Angeboten im Bereich der digitalen Bildung. Nun sind in diesem Jahr auch Bundestagswahlen. Wie sehen die Pläne Ihrer Partei im Bereich Digitale Bildung für die kommende Legislaturperiode aus?

Stumpp (MdB): Wir merken in der Pandemie schmerzlich, was in den Jahren und Jahrzehnten zuvor versäumt wurde, nämlich die Schulen für des Lernen und Lehren in der Zukunft auszustatten und zu befähigen. Natürlich kann eine noch vollständig analoge arbeitende Schule nicht von heute auf morgen auf digitalen Fernunterricht umgestellt werden. Das erzeugt selbstverständliche Unzufriedenheit und Überforderung auf allen Seiten, zumal in einer Krise.

Ich habe bereits vor der Pandemie eine Bundeszentrale für digitale und Medienbildung konzipiert, mit der Lehrkräfte und Interessierte eine niederschwellige Anlaufstelle haben, wo sie qualitätsgeprüftes und damit vertrauenswürdiges Material finden, auch zu Anwendung im Unterricht.

Mit unserer Zustimmung zur Grundgesetzänderung haben wir den Digitalpakt Schule mit ermöglicht, mussten dann aber feststellen, dass er schlecht gemacht wurde: zu geringe Mittel, fehlende Nachhaltigkeit und der nicht nachvollziehbare Verzicht auf IT-Personal. Hier wollen wir mit einem Digitalpakt Plus nachlegen und substantiell weiterkommen. Dazu gehört auch ein dauerhafter Beitrag des Bundes, damit vor allem die Kommunen nicht über Gebühr mit den Folgekosten belastet werden.

Neben einer didaktischen Ausrichtung der Digitalisierung brauchen alle Schulen ein digitales Fundament etwa aus Breitband, WLAN, Endgeräten, Fortbildungen, Mailadressen oder Lernplattformen, um überhaupt am digitalen Lernen partizipieren zu können.

Wir möchten Sie gerne zu einem Gedankenexperiment einladen: Wenn Sie  Bundes-Bildungsministerin wären – wie sähe Ihre erste Amtshandlung für die digitale Bildung von Kindern und insbesondere Mädchen aus?

Stumpp: Ich habe bereits während meiner Schulzeit programmiert und schon vor Jahrzehnten das Fach „Grundlagen der Informationstechnik“ unterrichtet. Inzwischen gibt es in diversen Bildungsplänen das Pflichtfach Informatik, einen ganzheitlichen Ansatz zur Vermittlung „digitaler“ Kompetenzen halte ich für zielführender. Informatische Bildung umfasst viel mehr als Programmieren. Wir brauchen ein Selbstverständnis von digitaler und Medienbildung, das von der Kita bis zum lebensbegleitenden Lernen reicht. Ob es dafür ein Fach Informatik braucht oder man eher einen Querschnittsansatz wählt, ist zweitrangig. Wichtig ist, Zukunftskompetenzen zu vermitteln, damit Jungen und Mädchen kompetent und kritisch ihr Leben bestreiten und die Welt von morgen mitgestalten können.

Eine Bundesbildungsministerin hat keinen Einfluss auf Bildungspläne. Aber sie muss die Zusammenarbeit mit den Kultusminister*innen der Länder pflegen und Anreize schaffen. Es ist wichtig, dass wir Bildungspolitik wieder als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstehen, das heißt Bund, Länder und Kommunen sollten gemeinsam für beste Bildung und gerechte Zukunftschancen an einem Strang ziehen.

Informatische Bildung umfasst viel mehr als Programmieren. Wir brauchen ein Selbstverständnis von digitaler und Medienbildung, das von der Kita bis zum lebensbegleitenden Lernen reicht.


Mädchen und Frauen sind in den MINT-Bildungsangeboten und Berufen aktuell unterrepräsentiert. Sie haben u. a. ein Ingenieurstudium an der Fachhochschule Ulm absolviert, als Applikationsentwicklerin gearbeitet und waren Lehrerin an der HEID TECH Berufsschule in Heidenheim. Woher rührt Ihre Begeisterung für Tech und wie kann es uns gelingen, mehr Mädchen und Frauen für MINT zu begeistern?

Stumpp (MdB): Ich habe Technik immer als Mittel gesehen, um eine Aufgabe leichter und schneller zu erledigen. Technik als Mittel zum Ziel. Das ist bis heute so. Technik hat die schwere Arbeit auf dem Bauernhof übernommen, Technik erleichtert den Kontakt zu Menschen, egal ob durch bessere Mobilität oder vielfältige Kommunikation. Außerdem hilft uns Wissenschaft und Technik besser und auch ressourcenschonender zu leben. Wir werden die Klimakrise nur eindämmen und mit den Folgen umgehen können, wenn wir die entsprechenden Technologien entwickeln. Wir haben z.B. 1991 die erste netzeinspeisende Photovoltaikanlage auf unser Reihenhausdach montiert.


Claudia Pohlink, Head of AI und Machine Learning, T-Labs, hat uns folgende Frage für Sie mitgegeben: Was mich wirklich umtreibt, ist die Frage: Warum haben wir in Deutschland in der Wirtschaft im Top-Management einen so geringen Anteil an Frauen im Vergleich zu anderen Ländern? Wir haben seit 16 Jahren eine Kanzlerin, Ursula von der Leyen ist Präsidentin der Europäischen Kommission. Wir haben eine hohe Anzahl an weiblichen BWL-Studentinnen. Warum schlägt sich das im Top-Management deutscher Konzerne nicht nieder? Und was machen andere Länder besser als wir?

Stumpp (MdB): Die Antwort darauf ist natürlich sehr komplex und betrifft viele Stellschrauben, an denen wir drehen müssen. Ich möchte drei nennen, die aus meiner Sicht wesentlich sind:

Kaum irgendwo ist das Rollenklischee „Frau und Technik, Welten treffen aufeinander“ so verbreitet wie in Deutschland. Frauen haben zwar während und nach dem Krieg „ihren Mann gestanden“. Aber nur, so lange Männer fehlten. Als sie zurückkehrten, wurden die Frauen an den Herd geschickt. Denn in der Wirtschaftswunderzeit gehörte es zum Wohlstandsbild, dass Frauen nicht arbeiten „mussten“ und sich um Haus und Kinder kümmern sollten. Dieses Bild wirkt bis heute nach.

Deswegen sind wir beim Thema Vereinbarkeit und Familie und Beruf immer noch im Rückstand. Wenn wir beispielsweise in die skandinavischen Länder schauen, sehen wir zum einen, dass Care-Arbeit gleichberechtigter zwischen den Geschlechtern aufgeteilt ist. Und das führt zum zweiten dazu, dass beispielsweise Führung in Teilzeit wesentlich ausgeprägter oder der Präsenzfetisch weniger stark ist.

Außerdem brauchen wir mehr weibliche Vorbilder. Ich wage die These, dass Mädchen und junge Frauen, die Angela Merkel, Kamala Harris oder Luisa Neubauer wahrnehmen, viel selbstverständlicher ähnliche Positionen anstreben oder wenigstens nicht vor ihnen zurückschrecken.

Bis wir tatsächliche Gleichberechtigung erreichen, brauchen wir die Quote. Als junge Frau habe ich die entschieden abgelehnt, auf Grund meiner Erfahrungen aber meine Meinung dazu inzwischen geändert. In unserer Bundestagsfraktion sind mehr als die Hälfte der Abgeordneten Frauen, was ich sowohl gleichstellungspolitisch als auch für die Qualität der parlamentarischen Arbeit als Gewinn sehe. Das ist Ergebnis unseres Frauenstatuts. Wir sorgen auch mit quotierten Redelisten dafür, dass alle zu Wort kommen, nicht nur die Lauten und Vorschnellen.

Wir möchten auch gerne Ihre Aspekte in die Debatte rund um Diversity und Gender einbringen. Gibt es aus Ihrer Sicht einen Aspekt, der bisher zu kurz kommt? Welche Frage möchten Sie uns in diesem Kontext für unsere nächste Interview-Partnerin mitgeben?

Stumpp (MdB): Oft wird Gleichberechtigung mit „Gleichmacherei“ und „Gleichartigkeit“ assoziiert, nicht mit „Gleichwertigkeit“. Das beraubt uns der vielfältigen Perspektiven. Gerade beim Thema „Frauen und Technik“  zeigt sich das.

Wie erreicht man Wertschätzung unabhängig von Herkunft und Geschlecht? Natürlich durch Bildung, Vorbilder, Sichtbarkeit; aber welche Ideen gibt es außerdem, die unfassbar festen Rollenvorstellungen zu durchbrechen? Welche Rahmenbedingungen braucht es, damit Gleichberechtigung gerade in der Arbeitswelt einen großen Schritt weiter kommt?

Oft wird Gleichberechtigung mit „Gleichmacherei“ und „Gleichartigkeit“ assoziiert, nicht mit „Gleichwertigkeit“.


Vielen herzlichen Dank für Ihre Zeit und Ihr Mitwirken in unserer Interview-Reihe!

Für unsere Serie #LIT Ladies in Tech suchen wir weitere spannende Interview-Partnerinnen und -Partner. Schreiben Sie bei Interesse gerne eine E-Mail an: hanna.vonderau(at)eco.de