Es gibt tausende gute Gründe, warum die Internetwirtschaft weibliche Verstärkung braucht. Schließlich stehen zahlreiche Jobangebote dem Fachkräftemangel gegenüber oder aber homogene Teams und Denkweisen Innovationen im Wege. Die Digitalbranche boomt, täglich entstehen neue digitale Geschäftsmodelle und schaffen lukrative Jobs, doch die lassen sich Frauen noch zu häufig entgehen. Wir wollen das ändern. In unserer Serie „Frauen in der Tech-Branche“ kommen in der Regel inspirierende weibliche Fach- und Führungskräfte der Internetbranche zu Wort. Doch Diversity im Aspekt Gender erreichen wir nur gemeinsam im Schulterschluss mit tollen männlichen Vorgesetzten und Kollegen. In dieser Ausgabe stellt sich mit Dr. Markus Dirr, Chief Digital Officer bei der Messe München, unser erster HeforShe Hero unseren Fragen.
Vor welchen Herausforderungen stehen Sie als Chief Digital Officer (CDO) der Messe München aktuell und wie sieht Ihr typischer Arbeitsalltag aus?
Dr. Markus Dirr: Corona-bedingt stehen wir natürlich vor der Herausforderung, dass wir bisher gestartete digitale Innovationen jetzt mit mehr Beschleunigung und mit höherer Priorität umsetzen müssen. Das erfordert einerseits viel agile Abstimmung mit meinem Team und weiteren Abteilungen der Messe München. Im Sinne eines modernen Leaderships agiere ich als Sparringspartner und Feedbackgeber für mein Team: Sind wir auf dem richtigen Weg, gehen wir die richtigen Schritte? Ein großer Teil meiner Arbeit besteht einerseits in der Betreuung und Weiterentwicklung meines Teams. Einen wesentlichen Anteil machen anderseits Kundengespräche aus, mit dem Ziel herauszufinden, ob unsere Entwicklung die Needs unserer Kunden treffen. Was sind ihre Erwartungshaltung an die Messegesellschaft? Durch den engen und intensiven Austausch mit unseren Kunden sind wir einfach effizienter und schneller in unseren Innovationszyklen.
Welche Qualifikation brauche ich als Chief Digital Officer (CDO)?
Dr. Dirr: CDOs kommen in der Regel entweder aus dem Tech-Bereich oder aus dem Marketing. Mein beruflicher Background liegt im E-Commerce- und Online-Marketing mit Fokus B2C. Ich habe mich damals für die Messe München entschieden, weil mich der B2B-Bereich und dieses große Potenzial der Messe München gereizt hat, das physisch schon vorhandene Potenzial ins Digitale zu bringen. Als CDO ist eine entsprechende Fachkompetenz im Bereich Digital, Kundenzentrierung und Wachstum quasi Grundvoraussetzung. Die Herausforderung besteht aber darin, eine Innovation in der Breite und damit in der Gesamtorganisation mit all ihren unterschiedlichen Anforderungen, unterschiedlichen fachlichen Skills und Altersgruppen, gut zu verankern. Dazu braucht es ein tiefgreifendes technisches Verständnis, um IT-Projekte bewerten zu können. Man darf vor technischen Diskussionen mit Programmierern nicht zurückschrecken. Die zentrale Aufgabe eines CDO lautet: Wie schaffe ich es, Kundenbedürfnisse in digitale und hybride Produkte zu übersetzen? Dazu braucht es aus meiner Sicht keinen klassischen BWL- oder IT-Lebenslauf, sondern vor allem ein Verständnis für unterschiedliche Perspektiven und Blickrichtungen sowie Empathie. Ich selbst habe Philosophie studiert und in Soziologie über Social Media-Plattformen und digitale Produkte promoviert.
Ein bisschen provokant gefragt, als weißer Mann gehören Sie zu den Priviligierten in der Arbeitswelt. Warum ist Ihnen das Thema Diversity in Ihrem Team wichtig?
Das ist für mich eine ganz sachliche Entscheidung. Die Frauenquote liegt bei der Messe München bei über 60 Prozent. Die zentralen IT-Innovations-Entwicklungsprojekte liegen im Geschäftsbereich Digital alle in der Hand von Frauen. Als Vorgesetzter sollte ich mich immer fragen: Welche Stärken hat mein Mitarbeiter und wie kann ich dessen Stärken gut einsetzen – und zwar unabhängig vom Geschlecht. Unsere Innovationsprojekte sind sehr komplex, sehr volatil, viele Projektbeteiligte sind involviert und bedürfen einer hohen Entscheidungsgeschwindigkeit. Meine Erfahrung ist, dass Frauen in diesen Projektrollen tendenziell besser geeignet sind, weil sie oft ein breiteres Sensorium haben und emotionale Schieflagen häufig früher erkennen. Die fachlichen Themen kriegen sie aus meiner Sicht in Projekten immer geregelt. Projekte scheitern an Zwischenmenschlichem, wenn beispielsweise nicht alle Beteiligten gut abgeholt und involviert werden. Frauen haben dafür tendenziell ein besseres Gespür als Männer.
Als Vorgesetzter sollte ich mich immer fragen: Welche Stärken hat mein Mitarbeiter und wie kann ich dessen Stärken gut einsetzen – und zwar unabhängig vom Geschlecht.
Welchen Tipp haben Sie für Unternehmen, die mehr Bewerbungen von Frauen generieren möchten?
Dr. Dirr: Um mehr Bewerbungen von Frauen zu generieren, muss man schon bei der Stellenausschreibung ansetzen. Ausschreibungen im IT-Bereich sind häufig sehr männlich und technisch formuliert, vielleicht auch weil sie teilweise von Männern verfasst werden. Stellenausschreibungen werden bei mir im Team auch von Frauen formuliert, dadurch bekommen sie eine ganz andere Tonalität. Wir fokussieren in unseren Stellenanzeigen sehr prominent die Faktoren Team und Zusammenarbeit, Autonomie und Selbstverantwortung. In den Bewerbungsgesprächen ermöglichen wir zudem Kontakt zum Team. Weil ich glaube, für Frauen ist neben klassischen Employer Branding Benefits viel mehr eine positive Antwort auf die Frage: Finde ich dort Menschen, mit denen ich den ganzen Tag verbringen will? ausschlaggebend. Daher sollten Unternehmen Frauen im Bewerbungsgespräch mit den Themen Teamfit und Zusammenarbeit überzeugen, da Frauen aus meiner Erfahrung hier einen höheren Stellenwert legen als Männer.
Wie lautet Ihre Empfehlung an Frauen, die eine Führungsposition ergreifen wollen?
Dr. Dirr: Meine Empfehlung an Frauen lautet, klar zu artikulieren, wenn sie eine Führungsposition ergreifen wollen und zwar unabhängig davon, ob das Unternehmen das abbilden kann. Gedanken wie „Ach, da gibt es sowieso keinen Platz für mich, deshalb muss ich das gar nicht sagen“ bitte beiseiteschieben. Behalten Sie niemals die eigene Karrierevision für sich und ziehen Sie im Extremfall auch die Konsequenzen, wenn das Unternehmen ihre Vision nicht erfüllen kann.
Behalten Sie niemals die eigene Karrierevision für sich und ziehen Sie im Extremfall auch die Konsequenzen, wenn das Unternehmen ihre Vision nicht erfüllen kann.
Wir haben jetzt viel auf die Unternehmensseite geschaut. Das wäre aber sehr einseitig. Gibt es etwas, wo Sie sagen, da sind Frauen schon gut bzw. da könnte es noch etwas besser laufen?
Dr. Dirr: Es ist ganz wichtig, klar und deutlich zu artikulieren, wenn man Karriere machen will. Da tun sich Frauen häufig noch etwas schwer. Das zweite ist Aufpassen vor unabsichtlicher Selbstentwertung. Ein Klassiker: Ich mache einer Kollegin ein Kompliment vor ihrer Führungskraft. Tolles Projekt, hervorragend gemeistert. Dann sagt die Kollegin: Ach, das war ja jetzt nicht so schwer. Ein Mann würde das niemals tun. Wenn Sie als Frau ein Lob bekommen, einfach annehmen und stehenlassen. Das dritte Einstehen für den persönlichen Entwicklungsweg und die Führungskraft auch klar in die Verantwortung nehmen. Wenn ich als Frau beim falschen Chef bin, dann kann ich nur empfehlen, sich nicht die Mühe zu machen, andere zu verändern. Wenn mein Chef mich nicht wertschätzt, Männer und Frauen nicht gleichstellt und mich in meiner Entwicklung nicht unterstützt und mir nicht die Möglichkeit gibt, mein Potenzial zu entfalten, dann wechseln. Damit tun sich Männer auch leichter, die denken: mehr Geld, mehr Verantwortung, super mach ich. Frauen überlegen häufig erstmal, was es für das Team bedeutet, wenn sie ihren Job nicht mehr machen.
Sie sind selbst Führungskraft. Welchen Tipp haben Sie an Frauen, die eine Führungsposition anstreben?
Dr. Dirr: Mein Tipp lautet: Suchen Sie sich einen männlichen Mentor oder Coach. Nicht damit Sie sich einen männlichen Stil aneignen, sondern um mitzubekommen, wie Männer ihre Karriere angehen und anpacken. Wenn das eigene Unternehmen das nicht bereitstellt, dann schreiben Sie über LinkedIn Menschen an, welche passen könnten. Viele Menschen im Senior-Management sind da sehr offen und geben ihre Erfahrungen gerne weiter. Die zweite Empfehlung lautet: Netzwerken. Gibt es beispielsweise Frauennetzwerke im Unternehmen oder welche Leute bieten einen Mehrwert, mit wem will ich mich vernetzen? Das Dritte ist zu schauen, wie kann ich meine Entwicklungsmöglichkeiten innerhalb des Unternehmens ausbauen? Welche Möglichkeiten und Kurse bietet die Personalabteilung bspw. zur Führungskräfteentwicklung? Alter Trick: Wenn für Führungskräftetrainings noch ein Platz frei ist, kommt man da häufig auch als Nicht-Führungskraft rein – Fragen kostet nichts.
Wenn für Führungskräftetrainings noch ein Platz frei ist, kommt man da häufig auch als Nicht-Führungskraft rein – Fragen kostet nichts.
Welche Frage möchten Sie uns für unsere nächste Interview-Partnerin mitgeben?
Dr. Dirr: Wie integriert man Frauen nach der Elternzeit wieder optimal ins Unternehmen?
Herzlichen Dank für Ihre Zeit und das Interview, Herr Dr. Dirr.
Für unsere Serie #LIT Ladies in Tech suchen wir weitere spannende Interview-Partnerinnen und -Partner. Kontaktieren Sie uns gerne bei Interesse. Schreiben Sie gerne eine E-Mail an: hanna.vonderau(at)eco.de